Wir dürfen nicht wegsehen und vergessen!

In der Reihe "Hör mal zu" berichtet Karin Lüdke über die Suche nach Jüdischen Spuren in Bad Saarow

 

„Im November 2023, 85 Jahre nach den schrecklichen Pogromen der Nazis gegenüber Juden in Deutschland, ihrer anschließenden Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung, macht es betroffen, wenn heute wieder jüdische Mitbürger in unseren Städten bedroht werden“, eröffnete die Vorsitzende des Scharwenka Kulturforums , Vera Jaspers, das Gespräch mit Karin Lüdke.

Vera Jaspers (l.) im Gespräch mit Karin Lüdke (r.)

Die niedergelassene Psychologin in Bad Saarow hat sich schon früh für das Schicksal der Juden interessiert. In Leipzig geboren und aufgewachsen, gehörte sie dort bereits einer Arbeitsgruppe an, die das Schicksal jüdischer Mitbürger bewegte. Nach ihrem Umzug 2006 nach Bad Saarow hat sie sich auch hier wieder engagiert. Sie wurde Mitglied der AG Jüdische Spuren in Bad Saarow – Teil des Fördervereins Kurort Bad Saarow – , die das Schicksal von vielen Saarower Mitbürgern recherchiert, ein Gedenkbuch erstellt, die Gedenktafel am Bahnhof initiiert und im Laufe der Jahre 24 Stolpersteine  verlegt hat. Im Gespräch mit Vera Jaspers hat Frau Lüdke über diese Projekt berichtet, über all das, was sie über das Leben jüdischer Mitbürger in Bad Saarow erfahren hat, aber auch über ihr Leben in Leipzig und ihre lebenslange Beschäftigung mit dem Thema.

Friedemann Mewes, der „Hauspianist“ im Scharwenkahaus, eröffnete den gut besuchten Abend mit Klezmermusik.

Wie aus dem normalen Leben der Albtraum wurde

Das Gespräch begann mit Bildern. Ein kurzer Amateurfilm über „Familie Ascher und ihre Freunde“, Anfang der 1930er Jahre gedreht. Karin Lüdke hat ihn im Jüdischen Museum in Berlin entdeckt. Es liegt Schnee auf dem Scharmützelsee. Die Aschers, ihre Kinder und ihre Freunde schieben den Schnee an der Uferstraße beiseite, laufen Schlittschuh und spielen mit dem Hund. Im Hintergrund ist das Parolohaus zu erkennen. Ein ganz normaler, entspannter Wintertag für die Familie. Sie hatten wohl, wie viele andere jüdische Bürger in Bad Saarow, ihr Grundstück oder wohnten hier.

Doch das sollte sich bald ändern. Mit dem Machtantritt der Nazis 1933 begann auch in Bad Saarow die Schikanen gegen jüdische Bürgerinnen und Bürger. Geschürt von der nazistischen Propaganda wandelte sich die Stimmung in der Bevölkerung schnell. Der damalige Bürgermeister wollte Bad Saarow zum ersten „judenfreien Kur-Bad“ machen, erklärt Karin Lüdke. 1935 verloren jüdische Ärzte, Lehrer und Rechtsanwälte ihre öffentliche Zulassung. Viele mussten ihre Grundstücke und Häuser verkaufen, tauchten unter oder flohen ins Ausland, solange das noch möglich war. Die, die hier blieben, haben zunächst versucht, nicht aufzufallen, zurückgezogen gelebt, wie Familie des Prof. Hochstetter. Das gelang aber nur bis 1938.

In der Pogromnacht , am 9. November 1938, wütete auch hier in Bad Saarow ein aufgestachelter Nazi-Mob. Die Häuser der Juden wurden geplündert, die Wohnungen verwüstet, die Menschen geschlagen oder eingesperrt. Der betagte Prof. Hochstetter konnte sich in ein jüdisches Altenheim in Berlin retten, wurde von dort aber in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und verstarb dort.

Ins jüdischen Kinderheim, erst 1930 gegründet, drangen in den frühen Morgenstunden des 10. Nov. 1938 Nazianhänger ein, bedrohten die Bewohnerinnen und machten sich sexueller Misshandlungen an dem weiblichen Personal und mehreren Mädchen zwischen 10 und 13 Jahren schuldig. Das Heim in der heutigen Thälmannstraße wurde geschlossen, was aus seinen Bewohnerinnen geworden ist, war nicht aufzuklären. In dem „Gedenkbuch für die verfolgten und vertriebenen Juden von Bad Saarow 1933-1945“ sind die Schicksale von 283 Personen dokumentiert. „Nur von drei wissen wir, dass sie die Nazi-Barbarei überlebt haben“ so Karin Lüdke.

Verdienstvolle Aufklärung

Aber auch nach dem Ende der Nazi-Diktatur war das Interesse  an der Aufklärung  dieser Verbrechen in Bad Saarow nicht sehr groß. Deshalb gründeten In den 2000er Jahren  engagierte Bürgerinnen und Bürger innerhalb des Fördervereins Kurort Bad Saarow e. V. die Arbeitsgruppe „Jüdische Spuren in Bad Saarow“. Zu den Initiatoren gehörten Dr. Peter Grabley, Dr. Fritz Fuhrmann, Peter Peters, Christian Pietà, Elke Teske und Ch. Wiedemann. Sie haben von 2003 bis 2008 eine immense, akribische Arbeit geleistet, in Archiven wie dem Bundesarchiv, dem Kreisarchiv Beeskow, im Jüdischen Museum recherchiert, um die Spuren des Verschwindens der jüdischen Bürger aufzuklären. Fündig geworden seien sie aber vor allem in den Archiven des Finanzamtes. Dort fanden sie – mit deutscher Gründlichkeit notiert – die Dokumente zum Einzug des Vermögens jüdischer Personen bei ihrer Flucht oder dem Transport in die Vernichtungslager.

Engagiert bei der Spurensuche mitgearbeitet haben  Hannelore Kramer, Udo Kröber, Reinhard Kiesewetter, Frau und Herr Dr. Stöcker. 2009 wurde dann das Gedenkbuch „Jüdische Spuren in Bad Saarow “ vorgelegt und vorgestellt. 2008 stellte der Verein den Antrag an die Gemeinde Bad Saarow, Stolpersteine vor den Häusern der vertriebenen und ermordeten früheren jüdischen Mitbürger in Bad Saarow zu verlegen. Stark unterstützt wurde das Anliegen von Gerlinde Stobrawa, damals Bürgermeisterin von Bad Saarow. Bis heute konnten 24 solcher Stolpersteine verlegt werden.

„Auch wenn bisher die Konfirmandinnen der evangelischen Kirchengemeinde und Schülerinnen und Schüler der Maxim-Gorki-Oberschule die Steine regelmäßig gepflegt haben“, so Karin Lüdke, „so suchen wir doch Paten, die sich der Sache in Zukunft regelmäßig annehmen. Denn wir wollen dieses Erbe wachhalten.“ Spontan meldeten sich auf der Veranstaltung dazu Freiwillige.

Karin Lüdke und ihre Mitstreiterinnen in der AG Jüdische Spuren, dazu zählen noch Nicole Narewski und Christian Lombardt, wollen auch in Zukunft neue Formen des Erinnerns und der Vermittlung jüdischer Kultur finden und laden Interessierte ein, daran mitzuwirken.

Einen Ausblick darauf gab es schon. Es wird Kontakt mit dem Jüdischen Kulturschiff in Berlin aufgenommen, um es auch hier in Bad Saarow ankern zu lassen.Eine Fotoausstellung mit historischen Bildern ist geplant. Dr. Wolf D. Hartmann sicherte dazu die Unterstützung von Thomas Hölzel, dem Chef von Art Projekt, zu. Im April 2024 wird im Scharwenka Kulturforum Andrej Hermlin zu einer Lesung mit Musik erwartet, kündigte Vera Jaspers an.

Sie zitierte zum Schluss aus dem Gedenkbuch, was Christian Pietà uns mit auf den Weg gegeben hat: „Aus der Geschichte zu lernen, aus dem 9. November 1938 zu lernen, bedeutet, wir dürfen nicht mehr wegsehen. Es ist nicht mehr erlaubt, nichts wissen zu wollen. Wir leben in Freiheit in einer Demokratie. Wir haben keine Ausrede.“ Dem ist nichts hinzu zu fügen. Friedemann Mewes und beendete den Abend am Flügel mit Felix Mendelssohn-Bartholdys „Lied ohne Worte“.